Mehr als nur ein Knopf – warum ich ab jetzt stolz meinen Oberarm zeige!?

SBW Diabetes

Ich denke, es geht vielen Schülern so, dass sie nach dem Abitur oder dem Schulabschluss nicht ganz wissen, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen. Gleichermaßen ging es mir, also entschloss ich mich für ein freiwilliges Jahr.

Aber zunächst noch einmal kurz zu mir. Ich heiße Leonie und bin 20 Jahre alt. Normalerweise mache ich mein Freiwilliges Soziales Jahr seit Oktober 2020 in der Tagesförderstätte der Lebenshilfe St. Wendel. Im Dezember 2020 wurde jedoch die Tagesförderstätte als Vorsichtsmaßnahme aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus geschlossen, woraufhin ich in die Abteilung des Selbstbestimmten Wohnen wechseln konnte. Dort war ich zunächst einmal verunsichert aufgrund der neuen Situation und der vielen mir noch unbekannten zu Betreuenden. Die Unsicherheit legte sich jedoch schnell, denn nachdem ich rumgeführt worden war, blieben mir zwei zu Betreuende ganz besonders im Kopf. Ich hatte mit Frau J. sowie Frau G. sofort ein Gesprächsthema gefunden. Lustigerweise trugen wir alle denselben „Knopf“ am Arm. Als Knopf bezeichnen die beiden ihre Diabetessensoren zur Blutzuckerüberwachung (auf dem Bild zu sehen). Ich persönlich finde den Vergleich ganz passend. Die beiden Damen wohnen jeweils in einer unserer Wohngemeinschaften und werden durch das Selbstbestimmtes Wohnen in verschiedensten Lebensbereichen unterstützt. Beispiele dafür sind: einkaufen gehen und zubereiten von Speisen, Behördengängen und die Gesundheitsfürsorge.

Jedes Mal, wenn ich bei einer der Beiden in der Betreuung war, verglichen wir unsere Sensorwerte. Mit der Zeit gestalteten wir daraus sogar einen kleinen Wettbewerb. Wir haben immer viel über unsere Blutzuckerwerte geredet, denn natürlich kann nur ein anderer Diabetiker nachvollziehen wie es sich anfühlt einen unstillbaren Durst durch einen zu hohen Blutzuckerwert zu haben oder wenn die Beine mal wieder zittrig sind, weil der Blutzucker im Keller ist. Auch wenn Diabetes heutzutage keine lebensbedrohliche Krankheit darstellt, ist sie ein stetiger Begleiter im Alltag. Zwar gibt es den Unterschied, dass Frau J. und Frau G. beide die Diagnose Typ 2 Diabetes haben und ich Typ 1, nichtsdestotrotz haben wir eine ähnliche Herausforderung im Leben. Wir alle müssen auf unseren Körper hören, müssen alle drei Monate in die Diabetesberatung und müssen regelmäßig unseren Blutzucker kontrollieren.

Gerade die Arbeit mit Menschen bereitet mir in meinem Freiwilligendienst große Freude, aber manchmal sind es auch einfach kleine Situationen die mich zum Schmunzeln bringen. Ein gutes Beispiel war, als eine Kollegin für Frau J. eine Oberarmbinde gekauft hatte, welche den Sensor abdecken soll, denn Frau J. hatte diesen beim Umziehen schon öfter mit abgerissen. Eine ärgerliche Situation, welche ich selber nur allzu gut kenne.

Ich konnte viel von Frau J. und Frau G. lernen, denn sie sind selbstverständlich stolz, ihren Sensor zu zeigen und sich täglich um ihren Körper zu kümmern. Diabetes ist nun mal keine Erkrankung, um welche man sich nur kümmern kann, wenn man gerade Lust hat. Die beiden denken selbstständig an das Blutzucker messen und Sensor wechseln. Frau J. spritzt sich sogar jeden Tag ihre notwendige Insulindosis selbst. Die Gesellschaft sollte aufhören Stigmata im Kopf zu haben, denn nicht jeder Mensch mit einer Behinderung ist unselbstständig und hilfsbedürftig oder gar bemitleidenswert. Die Gesellschaft muss aufhören in „normal“ und „anders“ einzuteilen, denn wenn wir gleichberechtigt zusammenleben wollen, brauchen wir einen selbstverständlichen Umgang.

Ich denke, ich werde in meinem Leben noch öfter an meine Zeit als Freiwillige zurückdenken, denn mein FSJ hat mich in meinem Leben ein großes Stück weitergebracht. Es hat mir die Arbeitswelt gezeigt, mich selbstständiger und organisierter gemacht. Ich habe Erfahrungen gesammelt und bin menschlich gewachsen. Und wenn ich in einigen Jahren zurück an 2020/ 2021 denke, dann werde ich mit Sicherheit nicht nur an Corona denken, sondern auch an die zwei starken Persönlichkeiten die ich in einer solch schwierigen Pandemie Zeit kennengelernt habe.

Leonie Schindler

St. Wendel, den 18.05.2021