Festakt 25 Jahre TWG

Seit nunmehr 25 Jahre gibt es bei der Lebenshilfe St. Wendel die Therapeutische Wohngruppe. Ihr Auftrag ist es, Menschen mit geistiger Behinderung und gleichzeitig psychischen Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten eine ihren Schwierigkeiten angemessene, adäquate Wohnmöglichkeit und heilpädagogisch/psychotherapeutische Hilfe zur Verfügung zu stellen.

Anlässlich des 25-jährigen Bestehens dieser Wohngruppe hielt die Lebenshilfe St. Wendel im Rahmen eines Festaktes Rückblick und würdigte den besonderen Wert dieser für die betroffenen Menschen so äußerst wichtigen Einrichtung.

Große Aufmerksamkeit erzielte bei dieser Feier, die am 28. August in der Sporthalle der Integrativen Kindertagesstätte durchgeführt wurde, die äußerst bemerkenswerte Rede von Gerhard Koepke, Superintendent Pfarrer i. R.

Wegen der besonderen Bedeutung der Ausführungen von Gerhard Koepke hat die Redaktion von Mittendrin entschieden, diese so wichtige Rede vollständig, ohne jegliche Kürzung und Abänderung, zu veröffentlichen.

Im Folgenden nun die Rede:

 

Einführung in Festveranstaltung

„25 Jahre Therapeutische Wohngruppe Lebenshilfe St. Wendel“ (Gerhard Koepke, 30.08.2018)

I.

„Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit“.

Neil Alden Armstrong, US-Amerikaner und Astronaut, der erste Mensch auf dem Mond, hat so gesagt – und alle Welt hat ihm zugehört, als er damals die letzte Stufe der Leiter nahm und am 21. Juli 1969 wie in Zeitlupe – wegen der Schwerelosigkeit – von dem, was ihn eben noch über die Entfernung hinweg mit der Erde verband, auf den Boden des Mondes sprang. – Fast sechzig Jahre ist das jetzt her. (…)

Der erste Schritt vom Bürgersteig hinunter auf die Straße, um die dann zu überqueren: Für – ich nenne ihn jetzt einmal – „Frank“ – für Frank war das ähnlich: Ein kleiner Schritt für einen Menschen. (…)

Für Frank war das aber ein riesiger Sprung in seiner Entwicklung. Für ihn, der in seinem Leben bisher immer nur in Anstalten eingesperrt war. Zeitweise wegen seiner Aggressivität auch in einer Zwangsjacke. Ob ihm da auch alle Zähne gezogen wurden, wie Herrn Y. von dem Gabriele Serf-Glitt in ihrer Diplom- Verhaltensproblematik im Rahmen der Psychiatriereform“ von 1994 berichtet, weiß ich nicht. –

Frank war einer von denen, die in Zusammenhang mit der Reform in die Wohngruppe nach St. Wendel kamen. Der dort nun ortsnah wohnen und leben durfte. Der gefördert und auch gefordert wird. Und wenn er möchte, darf er sich natürlich frei bewegen.

Und so geht er allein und wagt es, wagt eines Tages diesen Schritt hinunter vom Bürgersteig auf die Straße, um sie zu überqueren.[1]

Ein kleiner Schritt für diesen Menschen Frank. Ein großer Schritt in der Entwicklung der Menschheit, – der Menschlichkeit, der Anerkennung der Würde des Menschen. Aller Menschen. Mit oder ohne Behinderung.

Ich meine mich zu erinnern, dass es in einer Vorstandssitzung der Lebenshilfe war, in der Geschäftsführung und Vorsitzender hiervon erzählten.

II.

Und ich erinnere mich an eine frühere Sitzung als Bernhard Müller von der Idee der Auflösung des Landeskrankenhauses in Merzig erzählte. Als er die Psychiatrie-Reform im Saarland ansprach – angestoßen von Prof. Dr. Wolfgang Werner, der sich damit gewissermaßen als ärztlicher Direktor des Landeskrankenhauses selbst überflüssig machte. Nach Bremen damals die zweite Reform in der Bundesrepublik. Aber die einzige landesweite. Diese Psychiatrie-Reform führte dann zur Einrichtung „Therapeutischer Wohngruppen“ in den Landkreisen, im Stadtverband: ‚Ob das nicht auch etwas für uns in der Lebenshilfe St. Wendel wäre?‘

Man muss wissen: Bernhard Müller hat eine sehr ruhige, aber auch sehr nachdrückliche Art. Er ist beharrlich. Und überzeugt!

Wir haben auch einmal mit dem Vorstand „Merzig“ besucht. Die alte Forensik war es, glaube ich. Mein lieber Mann! – das war schon ganz schön eindrücklich.

Die Gänge habe ich vor Augen, – gekachelt, meine ich mich zu erinnern. Der Boden gebohnert. Die – ich nenne sie „Wärter“ und die – ich nenne sie „Insassen“: Und die Zäune und die Gitter und das Eisen drumherum und und und…

Da fällt mir „Die Hölle von Ueckermünde[2]“ ein.

Die Hölle von Ueckermünde ist ein Film von 1993, eine Reportage des Hessischen Rundfunks. Ernst Klee, sogenannter Investigativjournalist, Filmemacher und Schriftsteller, der sich besonders um Randgruppen kümmert, zeigt darin – ich zitiere: „eine Reise, die Du nie vergessen wirst“. Und das stimmt!

„…von außen sind die Anstalten alle hübsch anzusehen…“ Die Menschen in ihnen „…erinnern an Tiere…, aber nur, weil sie wie Tiere gehalten wurden und …noch werden…“, heißt es zu Beginn.

„Verwahrpsychiatrie“ bekommt man zu sehen: Schlafen – Essen – Leerlauf. Eine Privatsphäre gibt es nicht. Weder beim Baden noch auf der Toilette…

Wir Deutschen haben Entsetzliches – hoffentlich – hinter uns: Behindertes Leben galt in der Vergangenheit als »minderwertig« als »lebensunwert«. Zur Zeit des Naziterrors erreichte der Wahn, Behinderung und Krankheit ausrotten zu wollen, mit etwa 100.000 Morden an Menschen mit Behinderungen und schätzungsweise 350.000 Zwangssterilisationen seinen grausamen Höhepunkt. Die als minderwertig geltenden behinderten Menschen sollten keine Sexualität haben und natürlich sich nicht auch noch fortpflanzen.[3]

Da war es notwendig, dass sich etwas änderte: Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) werden Menschen mit Behinderungen nicht länger als Patientinnen und Patienten betrachtet, sondern als Bürgerinnen und Bürger. Sie gelten nicht länger als Problemfälle, sondern werden auf allen Ebenen als Trägerinnen und Träger unveräußerlicher Menschenrechte begriffen. (…)

Zurück zur „…Hölle von Ueckermünde“: Es gibt keine Therapie. Und bevor es ans Essen geht – der, wie Ernst Klee kommentiert – einzigen „Herausforderung des Tages“ sind Psychopharmaka zu schlucken.

Um allein zu sein, kriecht einer im großen Schlafsaal mit den vielen Betten unters Bett. Da ist ein anderer zu sehen, angekettet an den Heizkörper, und ein dritter reißt sich die Haare aus oder bekommt sie ausgerissen.

Sauberkeit ist das A und O. Putzkräfte gibt es, aber keine Pädagoginnen und Pädagogen, keine Therapeuten: „Schlafen, essen, scheißen, schlafen. Das ist der Alltag auf der Station 5c.“ – Ich zitiere aus dem Film.

Sprachlos sind die behinderten Menschen, denn ohne jede Ansprache geht die Sprache verloren.

Abends wird der Wäschekorb aufgestellt und ohne Aufforderung, wie dressiert, beginnen sich alle auszuziehen. Werden dann nacheinander gewaschen, wie Tiere in der Waschstation: Ein Waschlappen für alle – ein Handtuch für alle. Und der, der nicht richtig abgetrocknet wird, hinterlässt nachher nasse Schleifspuren seines Hintern auf dem Boden hin zum Bett, in dass er kriecht…

Und einer nimmt einen Stein mit ins Bett, um etwas Eigenes zu besitzen: Ohne jede Anregung, ohne jeden Zuspruch; mangels Zuwendung, mangels Zärtlichkeit schaukelt er sich in den Schlaf…

 

III.

25 Jahre gibt es die Therapeutische Wohngruppe der Lebenshilfe hier in unserer Stadt. – Haben die TWG’s sich bewährt und vielleicht reicht es ja jetzt? 25 Jahre nach der Auflösung des Landeskrankenhauses Merzig!Ja, sie haben sich bewährt – aber sie müssen weitergeführt werden. Es gibt heute zwar weniger Hospitalisierung, es hat sich in den 25 Jahren, auch nach Ueckermünde, viel geändert, das stimmt, aber wohin mit den Menschen, die es auch immer wieder gibt. Die unter uns sind. Die anders nicht ausreichend betreut werden können. Um die sich doch jemand kümmern muss: Unsere Gesellschaft. Wir!

„Man kann mit diesen Menschen arbeiten“. „Pädagogik ist stärker als Medikation“. „Hilfe muss im jeweils eigenen Lebensumfeld ansetzen.“ – „Es geht darum zu lernen, sich auszuhalten.“, so höre ich die Fachleute um Diplom-Psychologe Michael Kolschewski sagen, der – wenn ich es recht weiß, von Anfang an dabei ist.

Denen allen gilt ein ganz großes Lob: Was für tolle Kolleginnen und Kollegen der Menschlichkeit und der Würde: Was die alles geleistet haben und immer wieder leisten. (…)

IV.

„Wohin bringt ihr uns?“

In einer „kleinen Anfrage“ an die Bundesregierung will die „Alternative für Deutschland“ (die AfD) im März dieses Jahres wissen, wie viele Behinderte es in Deutschland gibt – und welche Rolle Eheschließungen unter Migranten dabei spielen. – Die da in der Anfrage vorgenommene Verknüpfung von Behinderung mit Inzest und Zuwanderung, sie hat breite Empörung in unserer Gesellschaft ausgelöst. –

„Wir rufen die Bevölkerung auf, wachsam zu sein und sich entschlossen gegen diese unerträgliche Menschen- und Lebensfeindlichkeit zu stellen“, so die Sozialverbände (April 2018).

„Wohin bringt ihr uns?“ – Das ist ein Zitat. Das steht auf einem Denkmal. Dem der „Grauen Busse“.

Diese 2006/2007 in Beton gegossene Erinnerungsfigur ist zweigeteilt: Da ist einmal ein festinstallierter Beton-Bus. Der versperrt die ehemalige Hauptzufahrt der Heil- und Pflegeanstalt Ravensburg-Weissenau in Baden-Württemberg.

Der zweite Teil des Denkmals, der in Form und Gewicht mit dem ersten Bus übereinstimmt, reist – so die kreative Idee – dann quer durch die Bundesrepublik an unterschiedliche Standorte.  Der Beton-Bus muss dabei natürlich transportiert werden. Er reist an verschiedene Standorte um dort jeweils die Erinnerung an die Geschichte der Ermordeten und ihrer Mörder wachzurütteln.

Dem Denkmal ist das Zitat „Wohin bringt Ihr uns?“ eingeschrieben. Es handelt sich dabei um die überlieferte Frage eines Mannes, der wie Tausend andere Patienten von den elf in grauer Tarnfarbe gestrichenen Transportbussen der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (Gekrat-Busse) abgeholt wurde. Nach Grafeneck etwa. In dieser Tötungsanstalt wurden im Jahr 1940 10.654 Männer, Frauen und Kinder aus psychiatrischen Kliniken systematisch getötet. „Aktion T4“, so der Name für dieses verbrecherische Unterfangen.

„Wohin bringt ihr uns?“ – Wir müssen wachsam sein. Hellhörig, aufpassen und uns zur Wehr setzen und uns schützend vor die stellen, die unsere Hilfe benötigen. Die allein nicht klarkommen. (…)

Herzlichen Dank!

[1] vgl. hierzu: Michael Kolschewski, Die Therapeutische Wohngruppe St. Wendel, aus: Kolschewski/Schüler: Auffälliges Verhalten, o.J. S. 4

[2] Die Hölle von Ueckermünde. Psychiatrie im Osten. Dokumentation, Buch und Regie: Ernst Klee, Produktion: HR, Erstsendung: 1993. In 43 Minuten wird am Beispiel zweier Anstalten in den neuen Bundesländern die Entwicklung der Psychiatrie „im Jahre 3 nach der Wiedervereinigung“ gezeigt

[3] Sigrid Arnade in: BZgA, Informationsdienst Forum Online. Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung, 2010